Dienstag, 30. September 2014

Siegesschleifen



Nan Inger Östman: Siegesschleifen. München (Arena) 1995.
Aus dem Schwedischen.

Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich.
Zum einen liegt dies an der Erzählperspektive: Die Geschichte wird "von hinten aufgerollt", das heißt, wir erfahren die eigentlichen Begebenheiten als Rückblenden. Die Hauptperson, Jeanette, Nettan, liegt schwer verletzt auf der Intensivstation, nachdem sie von einem Auto angefahren wurde, und erinnert sich an die letzten Jahre, die sie, wie der Titel vermuten lässt, hauptsächlich auf Ponyturnieren zugebracht hat.

Was nun nach Ponymädchentraum klingt, ist es letztlich nicht - und damit sind wir beim anderen ungewöhnlichen Punkt, nämlich dem tiefgründigen Inhalt und den ungewöhnlichen Grauzonen und Nuancen in der Schilderung dieser Familiengeschichte.

Nettan und ihre große Schwester Madeleine (Madde) leiden unter dem Erfolgsdruck, den ihr Vater aufbaut. Obwohl beide Mädchen Ponys lieben und der Wunsch zu reiten von ihnen ausgeht, zeigt sich bald, dass der Vater seine eigenen Minderwertigkeitsgefühle und die soziale Außenseiterposition, die er als Schrotthändler einnimmt, mit seinen beiden Töchtern bereinigen möchte. Von den ersten Reitstunden zu den ersten Turniererfolgen ist es nur ein kleiner Schritt, und der Vater hat Blut geleckt. Von nun an steckt er einen Großteil seiner Zeit und seines Geldes in die Reiterei seiner Töchter, die bald ihre eigenen Ponys haben und auch die Ponys anderer Leute zur Verfügung gestellt bekommen.
Dabei interessiert ihn die Gefühlswelt seiner Familie wenig - als Nettan langsam  zu groß für ihr geliebtes Pony Misse wird, erfährt sie erst nach dem Verkauf, dass ihr Vater ihn abgegeben hat. Die Mutter kann dem Turnierzirkus nichts abgewinnen, fühlt sich zunehmend nutzlos und verlässt schließlich die Familie, um ihre eigenen Lebensträume zu erfüllen.
Madde wehrt sich auf ihre Weise: Als sie dem Ziel des Vaters, schwedische Ponymeisterin zu werden, ganz nahe ist, verlässt auch sie die Familie, bricht die Schule ab und geht als Au-Pair nach England.
Während Madde mit ihrem großen Selbstbewusstsein dem Vater noch einiges entgegensetzen kann, fühlt Nettan sich mehr und mehr unter Druck gesetzt. Sie hat das Gefühl, als Person nichts mehr zu gelten und nur für Erfolge überhaupt die Anerkennung des Vaters zu bekommen, nach der sie sich so sehnt.
Auf einem großen Turnier kommt es, wie es kommen muss, nämlich zum großen Knall: Gegen ihren Willen soll Nettan mit auf dem Abreiteplatz gebrochenem Daumen ein temperamentvolles Pony durch den Parcours steuern. Als sie es mit der verletzten Hand nicht mehr halten kann und es den Kurs verlässt, wirft ihr Vater ihr absichtliches Versagen vor.
Nettan läuft ziellos davon, und es kommt zum Unfall, der sie ins Krankenhaus bringt. Dort lässt sie - mit zunehmendem Abstand und am Ende auch erwachendem Verständnis für den Vater - alles Revue passieren. Der Vater bleibt hilflos, als seine Tochter ihn nicht sehen möchte (auch weil die Ärztin Missbrauch vermutet und ihn fernhält), die Mutter zeigt sich während ihres Besuches schon ganz im neuen Leben stehend, und man wird das Gefühl nicht los, dass Nettan sich selbst retten muss und dies nicht kann.
Doch mit der Heilung des Körpers und dem dringend nötigen Abstand gewinnt Nettan eine ruhigere Sicht auf die Dinge und die Zukunft. Dass ihre Schwester den Aufenthalt in England beendet, um wieder zu ihrer Familie zurückzukehren und den Schulabschluss zu machen, lässt hoffen, dass Nettan nun den nötigen Halt finden wird, um gemeinsam mit ihrer Familie und den Ponys, die sie zusammenschweißen, einen besseren Weg für ihre Zukunft zu finden.

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