Springer, Nancy: Der Junge auf dem schwarzen Pferd. Zürich (Union) 1999.
engl. Originaltitel: The Boy on a black Horse.
Dieses Buch kann man auch als Erwachsener noch lesen, und es kann einen immer noch sehr nachdenklich stimmen. Die Pferde, die kleine Bashkir Curly-Mix Stute Paradiddel und der schwarze Hengst Rom (der eigentlich Fuerza Epica heißt und ein wertvolles Dressurpferd ist), spielen nur eine Nebenrolle, die aber sehr wichtig ist, ist es doch die Liebe zu Pferden, die die Waise Grace, genannt Gray, und den Jungen Chav (gesprochen "Schah") zusammenbringt.
Chav ist neu in Grays Klasse, und sofort sorgt er für Aufsehen: Er wirkt unnahbar, kühl und ungezähmt, und er isst sogar das Mensaessen. Als ein paar Jungs der Klasse ihn verprügeln wollen, stellen sie noch dazu fest, dass er sich durchaus wehren kann.
Schon in der ersten Stunde, als beide Teenager im Literaturkurs ihr Gedicht vortragen, stellen beide fest, dass sie Pferde mögen. Mrs Higbys Literaturkurs hat aber noch eine weitere Funktion: Da die Lehrerin die Aufgabe stellt, eine Art "literarisches Tagebuch" zu führen, gewinnen wir so Einblick ins Innerste der beiden Protagonisten.
Und da sieht es nicht immer schön aus. Gray leidet unter dem Verlust der Eltern und des Bruders, die bei einem Bootsunglück vor zwei Jahren ums Leben gekommen sind. Sie lebt seither bei ihrer nicht minder traurigen Tante, die Medikamente nehmen muss, um den Tod ihres Mannes und ihrer Töchter zu verkraften, die beim gleichen Unglück starben. Grays große Freude ist es, regelmäßig auf dem Hof Tophers die kleine Stute Paradiddel zu reiten. Auch Topher ist nicht ohne Narben: Er heißt eigentlich Christopher und nennt sich immer noch "Topher", weil seine Ex-Frau Chris hieß.
Chav hat ein noch schlimmeres Schicksal: Er reist allein mit seinen jüngeren Geschwistern durchs Land, denen er erzählt, sie seien auf der Suche nach ihrem Vater, einem Roma-König. Er impft ihnen auch ständiges Misstrauen gegenüber den Gadjo, allen Nicht-Zigeunern, ein.
In Wirklichkeit hat Chavs Vater, ein reicher Weißer, seine gesamte Familie, besonders aber Chav, aufs Schwerste misshandelt (es ist mehrfach von ausgeheilten Knochenbrüchen die Rede) und seine Frau, eine Roma, vor ihren Augen zu Tode geprügelt. Chavs jüngerer Bruder verdrängt die Erinnerung, und die kleine Chavali war tatsächlich noch zu klein, um sich an etwas zu erinnern.
Die Geschwister leben auf dem verlassenen Gelände einer Farm, zusammen mit dem schwarzen Hengst Rom, den Chav gerettet hat, denn Rom war in den Händen von Pferdedieben, die ihn misshandelt haben.
Gray spürt die Geschwister auf, bringt ihnen Essen und warnt sie, als ihr Großvater, ein Polizist, auf das Gelände kommen und nach ihnen sehen möchte. Doch dass Chav jede Sekunde gegen seine inneren Dämonen kämpft, sich wünscht, seinem Leben ein Ende zu setzen und dabei noch möglichst viele andere zu töten, kann Gray bestenfalls ahnen. Der Leser wird deutlicher in Chavs Gedankenwelt gezogen und beginnt zu verstehen, dass der Vater seinem Sohn immer wieder eingeprügelt hat, wertloser Abschaum zu sein. Chav lebt nur noch für seine Geschwister.
Als Chavali krank wird, nimmt Grays Tante sie auf. Dies tut ihr sichtlich gut; sich um die drei Geschwister kümmern zu können, gibt ihrem Leben endlich wieder Sinn. Schließlich bietet sie an, die Geschwister zu adoptieren, nachdem ihr Großvater nichts über sie herausfinden konnte und sie offenbar nirgends vermisst werden.
Chav hat nun das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Gray, die trotz aller Traurigkeit noch Mitgefühl für ihre Mitmenschen und brüderliche Liebe für Chav verspürt, reitet ihm hinterher, als er mit einem Gewehr zu einem Fußballspiel zieht, wo er ein Blutbad anrichten und sich selbst töten möchte. Ihr Mut und ihre Liebe bringen Chav letztlich dazu umzudenken und sich in ärztliche Behandlung zu begeben, die auch sein jüngerer Brüder dringend benötigt, als die Erinnerungen wieder hochkommen. Dies hat jedoch auch sein Gutes: Es gibt nun Zeugen für den Mord an ihrer Mutter, und der Vater wird gefunden und verhaftet.
Rom kehrt zu seinen ursprünglichen Eigentümern zurück.
Dies bleibt aber im Hintergrund; wichtiger ist der Prozess, der im Inneren Chavs und auch in Grays Leben stattfindet. Auch sie wird auf verschiedene Weise mit dem Tod ihrer Familie konfrontiert (nicht zuletzt, als sie über eine Brücke reiten muss, um zu Chav zu gelangen) und muss sich ihm stellen.
Am Ende werden Chav, seine Geschwister und sie eine richtige Familie, und Grays Tante heiratet Topher. Die Botschaft ist klar: Wir schaffen es nur gemeinsam.
Und als Gray Chav entgegenschreit "Es gibt keine Unterscheidung in Gadjos und Zigeuner", um ihn davon abzuhalten, die von ihm verhassten Gadjos zu töten, wird einem klar, wie sehr Chav sich an diese Unterscheidung klammert, um der Geschichte, die seinem Leben Sinn gibt, Bedeutung zu verleihen, aber auch, wie gefährlich sie ist.
Ein schönes Buch mit vorsichtigem Happy End, das viele Anstöße zum Nachdenken liefert.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen