Donnerstag, 17. Juli 2014

Ein Schimmel für Andrea

Inger, Nan: Ein Schimmel für Andrea. Stuttgart (Boje) 1977.
Originaltitel: Natt med häst.

Dieses Buch macht es mir außerordentlich schwer, meine Gedanken zu sortieren.
Eines vorab: Der Titel ist irreführend. Anders als er vermuten lässt, haben wir es nicht mit der typischen Mädchen-träumt-von-Pony-bekommt-Pony-gewinnt-das-Turnier-Geschichte zu tun.  Nein, es geht um etwas ganz anderes, nämlich das Reiferwerden und das Gewinnen des kritischen Blicks auf angebliche Vorbilder.
Nur bin ich irgendwie nicht sicher, ob Kinder (das Buch ist für 10-13 Jahre ausgeschrieben worden, und das in den 70ern. Ich würde allerdings sagen, dass die Altersangabe auch heute noch passt. Sogar Jungen spielen eine Rolle) diesen Aspekt verstehen. Nan Inger gibt in der Hinsicht nämlich nur minimale Hilfen. Andrea, die Hauptperson, ist eine Identifikationsfigur und noch dazu Ich-Erzählerin. Es dürfte Kindern schwerfallen, nicht ihre Sicht zu teilen. Und am Ende, als Andrea eigentlich genug zugestoßen ist, um einen kritischen Blick auf ihre Reitschule und deren Besitzerin zu werfen, würde man sich ein paar explizite Gedankengänge zum Thema wünschen. Diese werden aber nur angerissen und noch am ehesten von Andreas Freund Micke geäußert. "Freund" ist hier übrigens im Sinne einer gerade eben erst über das kameradschaftliche hinauswachsenden Beziehung zu verstehen. Heutige Leser bekämen wahrscheinlich das große Kichern, läsen sie Mickes Worte "Ich kann mich kaum erinnern, wann ich zuletzt mit einem Mädchen geschlafen habe" (S. 141). Zu diesem Zeitpunkt haben sich beide in die missliche Lage gebracht, nachts gemeinsam in der Schulaula übernachten zu müssen, und das äußerste, was passiert, ist, dass Micke Andrea sanft ein Haar aus dem Gesicht streicht. Gemeint ist also einfach: Mit einem Mädchen gemeinsam.

Überhaupt ist Micke derjenige, der einen distanzierten Blick auf die kleine Reitschule Bondestad hat, bei der Andrea und ihre Freundinnen ihre Freizeit und im Rahmen einer Reit-AG auch einen Teil ihrer Schulzeit verbringen. Die Reitschule gehört der eben erst 18jährigen Bauerntochter Marita, mit deren eigenen Reitkünsten es nicht weit her ist. Ihr Unterricht beschränkt sich oft genug darauf, die Mädchen anzuschreien, wenn etwas nicht klappt, und den Pferden mit Gerte oder Peitsche eins überzubraten, wenn sie nicht weiterweiß - und das ist oft der Fall. Hinzu kommt, dass die Pferde vernachlässigt werden: Ein Pferd lahmt regelmäßig, geht aber trotzdem im Unterricht mit; ein Tier hat regelmäßig Mauke; der Fütterungszustand und auch die Hufpflege der Tiere lassen zu wünschen übrig. Wären Andrea und ihre Freundinnen nicht zur Stelle, sähe es wohl noch düsterer aus. Micke ist derjenige, der Andrea erklärt, dass sie ausgenützt werde, Andreas Vater, ein alter Kavallerist, derjenige, der sie über die Reitkenntnisse Maritas aufklärt, aber Andrea will dies nicht hören.
Ein weiterer Kritiker ist der Lehrer Hubert, der erfolgreich Turniere bestreitet.
All das reicht aber noch nicht, um Andrea erkennen zu lassen, was sie von Bondestad zu halten hat. Ihr Wandel beginnt mit der Ankunft des Schimmels Marionett, den sie auf der Schauvorführung am Tag der offenen Tür ihrer Schule reiten soll. Marionett ist unberechenbar; auch Marita kommt mit ihm nicht klar. Er steigt und bockt, und man kommt nicht umhin Huberts Einschätzung, ein solches Tier sollte gar nicht von Kindern geritten werden, zu teilen.
Als Andrea den Schimmel für die Vorführung vorbereitet, beginnt sie, Maritas Defizite zu erkennen. Dem Leser werden sie vor Augen geführt, als Hubert vor der Vorführung auf etliche Mängel an Ausrüstung und Allgemeinzustand der Pferde hinweist und Marita letztlich damit droht, die AG schließen zu lassen.
Andrea findet Hubert in diesem Augenblick einfach nur scheußlich - ein bisschen wie Marionett auch einfach immer nur das "grässliche" Pferd ist, auf das man mit Gewalt einwirken muss, damit es endlich gehorcht.
Als Hubert sich in einer Notlage auf Marionett schwingen muss, begreift zumindest Micke, dass Welten zwischen Huberts Fähigkeiten und Maritas armseliger Reitschule liegen. Nun hat er, der Schulschwänzer und Außenseiter, auch endlich ein Ziel: Er möchte gute Noten erreichen, um nach der Schule eine Ausbildung im Pferdebereich zu machen, am liebsten natürlich gemeinsam mit Andrea.
Hubert räumt noch gehörig in Bondestad auf und wird so zum unwahrscheinlichen Helden. Er macht Marita genaue Auflagen, um die Haltung zu verbessern.

Das Buch hätte sich hervorragend für eine Fortsetzung geeignet. Man wünscht sich sehr zu sehen, wie Andrea wirklich die Schuppen von den Augen fallen, wie Maritas Pferde endlich genügend zu fressen bekommen und vielleicht auch die Reitlehrerin selbst Hilfe an die Hand bekommt - schließlich weiß sie es selbst nicht besser.




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